Samstag, 30. Januar 2021
1 - Und das ist schön
pierre-philippe scharf, 13:34h
Und das ist schön
20°C in der Nacht waren das Beste am Sommer. Ich stand am Bahnsteig und nahm meine Maske ab. Es waren eh keine Leute da, die ich hätte anstecken können. Eine Frau saß 20 Meter entfernt auf einer Bank und ein Obdachloser kam gerade die Treppe hoch, die genau am anderen Ende des Bahnsteigs war. Ich schaute auf die Uhr. 22:22 Uhr. War das ein Zeichen?
Ich ging nervös auf und ab. „Ich muss heute einen Schlussstrich ziehen“, dachte ich und versuchte mich durch Einatmen der frischen Luft zu beruhigen, sie war nicht mehr so schwül wie am Tag, aber es funktionierte nicht. Ich musste eine rauchen. Ich weiß nicht wie oft ich mit meinen 24 Jahren schon versuchte aufzuhören. Ich zündete mir eine an und meine Atmung wurde automatisch langsamer. Ich schloß die Augen, atmete tief ein und aus und zählte bis 13. Das machte ich schon seit ich denken konnte, weil ich schon immer schnell nervös und wütend wurde. Als ich bei 7 war, hörte ich wie ein Mann sagte: „Ey, Maske auf, man.“ Es war der Penner, doch ich zählte weiter. Bei Sekunde 11 stand er dann vor mir. Er hatte den Weg tatsächlich geschafft, bevor ich bei 13 angekommen war. Ich öffnete die Augen und da stand er taumelnd vor mir und erzählte mir mit starkem Mundgeruch, was ich für ein rücksichtsloser Arsch sei. Dass er selbst auch keine Maske trug, fiel ihm nicht auf.
Er roch nach Wichse und Erbrochenem. Ich musterte seine gelben, kaputten Zähne und seine Haare waren das Ekeligste, was ich je gesehen hatte. Nach ein paar Sekunden schlug ich ihm dann mit meiner Faust in die Magengrube und er sackte zusammen. „Geh mir nicht auf die Eier, du Schwanz“, sagte ich zu ihm. Ich war wieder auf 180 und wusste nicht wohin mit meiner Energie.
Die Bahn kam endlich und ich setzte die Maske auf. Der Penner schaffte es auch noch gerade so in die Bahn, jedoch fiel er mehr hinein, als dass er hineintrat. Ein strenger Blick von mir reichte, damit er sich ans andere Ende des Wagons setzte. „Jetzt 10 Minuten abschalten“, dachte ich. Nur leider regte es mich auf, dass ich das vorbeiziehende Hamburg nicht genießen konnte, weil sich, durch das Licht im Wagon, alles in der Scheibe spiegelte und ich mich nur selbst sah.
Ich hörte nochmal die letzte Sprachnachricht von ihr an. „Hey, es ist heute so viel Scheiße passiert. Ich brauch dich. Treffen wie immer?“ Wie immer, sie meldete sich und ich sprang, wie es ihr gefiel.
Ich kannte Klara schon seit 16 Jahren. Wir wohnten im gleichen Mehrfamilienhaus bis mein Vater starb und meine Mam und ich umzogen. Klara wohnte mittlerweile auch nicht mehr da. Ich fand sie schon immer hübsch, aber statt einem Paar wurden wir beste Freunde. Ihr gutes Aussehen hatten natürlich auch andere bemerkt, weshalb sie auch seit Jahren nie lange single war. Manchmal wünschte ich mir, dass wir nicht so gut befreundet wären. Dadurch, dass ich fast alles von ihr wusste, wurde sie immer attraktiver. Ich dachte, ich hätte Glück gehabt als wir im ersten Lockdown angefangen hatten miteinander zu schlafen, obwohl sie vergeben war. Sie hatte ihren Freund in der Zeit nicht gesehen, weil er beruflich mit vielen Leuten zu tun hatte und sie sich auf gar keinen Fall infizieren wollte. Ich hatte aber kein schlechtes Gewissen ihrem Freund gegenüber. Ich wusste, dass er Klara auch schon öfters betrogen hatte. Ich hatte es ihr auch gesagt, aber sie sagte, sie glaubt es erst, wenn sie es mit ihren eigenen Augen sieht. Ich konnte sie da nicht verstehen.
Für mich war das damals einfach Sex mit einer Person, die ich lieb hatte und nicht liebte. Da gab es einen klaren Unterschied. Doch wie das mit Gefühlen eben so ist, verändern sie sich gerne mal.
An einem Abend, wir waren bei ihr, ging es ihr nicht gut. Sie hatte starke Bauchschmerzen und sie lag in ihrem kleinen 90cm Bett in meinem Arm und ich streichelte ihr, weil es bei mir immer half, mit kreisender Bewegung den Bauch bis sie dann schließlich pupste. Ich stoppte das Streicheln und hielt kurz inne. Ich wusste nicht, ob ich mich verhört hatte oder nicht. Ich beugte mich über sie, um ihr Gesicht zu sehen, aber es war ihr wohl so unangenehm, dass sie so tat als ob sie schläft. In diesem Moment hatte ich mich in sie verliebt.
Diese neuen Gefühle hatten es nicht einfacher gemacht, im Gegenteil, alles wurde schwerer. Immer wenn wir Sex hatten, tat es weh, Natürlich hatte ich es auch irgendwie genoßen, aber es tat weh, weil ich wusste, dass sie mich nie so lieben würde, wie ich sie liebte.
Nach den Lockerungen hatten wir trotzdem noch hin und wieder etwas miteinander, obwohl sie ihren Freund wieder gesehen hatte, aber sie hatten oft Streit, weil er einfach ein Arsch war.
Altona. Ich musste aussteigen und ging noch durch einen kleinen Park zu unserem Treffpunkt. Der Altonaer Balkon, eine Aussichtsplattform mit einem schönen Blick auf den Hafen. Hier trafen wir uns immer. Die mittlere Bank, die vierte von links, das war unsere. Es kam mir so vor, als ob die Bänke zu Corona-Zeiten aufgestellt wurden, weil sie in perfekt gesetzten Sicherheitsabstand nebeneinander standen. Sie waren da aber natürlich schon seit Jahren. Klara war noch nicht da. Sie kam immer zu spät. Ich setzte mich auf die Bank und schaute auf den Hafen und die Elbe. Wie sich die Lichter im Wasser spiegelten und es an manchen Stellen einfach schwarz und dunkel war, lies mich kurz alles vergessen. Wenn da nicht alle paar Minuten ein Schiff lang fahren würde, hätte ich gedacht, ich schau auf eine Straße und nicht auf Wasser.
Ich war aufgeregt und wippte mit meinem rechten Bein. Ich fragte mich, was heute noch passieren würde. „Beschwert sie sich nur über ihren Freund, möchte sie Sex?“ Wir hatten uns etwa drei Wochen nicht mehr gesehen. Sie sagte immer zu mir, wenn wir uns verabschieden, ich soll mir ihre letzten Worte merken, falls sie mal auf die Gleise stürzt oder so. Ich antwortete meistens nicht darauf, sondern dachte mir, dass das dann die letzten Worte von ihr wären. Warum werden letzten Worten immer so eine hohe Bedeutung zu gesprochen? Die letzten Worte von meinem Vater weiß ich auch nicht mehr. Ich war ein Kind. Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass wir nicht mehr jeden Tag ins Krankenhaus gegangen sind und in eine neue Wohnung gezogen sind. Ich finde Erinnerungen bedeutsamer als die letzten Worte, auch wenn sie leider nach einiger Zeit verblassen, gibt es immer wieder Momente, in denen ich an meinen Vater denke, wie z.B. wenn ich mir die Schuhe zubinde. Wir hatten es so lange zusammen geübt. Ich werde das für immer mit ihm verbinden.
Ich hörte Schritte hinter mir. Aufgrund der Dunkelheit sah ich nur Umrisse. Schlank, nicht so groß, lange Haare. Klara wohnte nur zwei Minuten vom Treffpunkt entfernt, weshalb sie Connor, ihren Hund auch so gut wie nie mitnahm. Stattdessen tastete sie sich mit ihrem Blindenstock den Weg. Sie berührte immer jede Bank einmal, um sie zu zählen. „Die vierte wie immer“, sagte sie zu mir. „Es ist die Bank mit dem besten Ausblick.“ „Du Egoist“, sie lachte dabei. Klara tastete die Bank ab und saß sich neben mich. „Du hast geraucht. Das hab ich schon vor meiner Haustür gerochen.“ Ich sagte ihr, dass niemand so gut riechen könne und sie erwiderte, dadurch, dass sie blind sei, eine viel bessere Nase zu haben als ich. Ich mochte ihren Humor. Aber plötzlich wurde sie ernst und sagte, dass Drake, ihr Freund, mit ihr Schluss gemacht hatte. Er heißt so wie der Rapper Drake, aber benannt ist er nach Drake aus der Serie „Drake & Josh“, weil er die gleiche Frisur wie er hatte, eigentlich heißt er Derik. Sie war traurig, sie waren ja auch fast zwei Jahre zusammen und sie hat ihn wirklich geliebt, obwohl sie wusste, dass er sie schon mehrmals betrogen hatte. Sie fing an zu weinen. „Komisch“, dachte ich, „da haben ihre Augen doch eine Funktion.“ Ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Sie erzählte mir, dass er ihr heute alles gebeichtet hatte und nur darüber traurig war, dass er sie so lange und so oft angelogen hatten und nicht weil es auseinanderging. Darüber hatte ich mich gefreut. Dann fuhr sie weiter fort: „Ich bin eigentlich auch schon länger in jemand anderen verliebt, aber ich weiß nicht, ob ich ihm das sagen soll.“ Darüber hatte ich mich nicht gefreut.
Ich hatte nie verstanden, wie sie entschied, wen sie attraktiv findet. Sie hatte natürlich auch schon mal mein Gesicht abgetastet, aber wenn man noch nie ein Gesicht gesehen hat, ergibt sich doch im Kopf kein Bild davon. Entschied sie es dann anhand der Stimme, am Charakter oder wie derjenige sie behandelt? Ich wollte sie das fragen, aber es war der falsche Augenblick dafür.
Sie putzte sich die Nase und ihre Tränen trockneten langsam. Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte und fing an irgendwas zu brabbeln von wegen, du wirst es dann spüren, wenn der richtige Zeitpunkt dafür kommt, obwohl ich innerlich traurig war. „Wie fand sie nur immer neue Typen?“, fragte ich mich. Als mir zu dem Thema nichts mehr einfiel, waren wir beide still und ich schaute wieder auf die Elbe und merkte, als ein Schiff vorbeifuhr und ich durch dessen Licht die Wellen sah, die das Schiff machte, dass ich wieder dachte vor mir sei eine Straße und kein Wasser.
Ich machte ein Foto von Klara. Das machte ich oft, sie merkte es ja nicht. Wenn ich mir das Bild dann später irgendwann anschaute, wusste ich immer genau was das für ein Augenblick war. Was ich dachte, was sie mir sagte. Es war einfach eine Sammlung von schönen Momenten. So ähnlich wie eine Postkarte von einem besonderen Moment.
Klara fragte mich, ob bei mir alles okay sei, ich sei so ruhig. Ich sagte ihr, dass ich nach Kiel zum Studieren ziehen werde. Sie fragte, ob da denn überhaupt genug Platz für meine große Nase sei. Den Witz brachte sie schon seit unserer Kindheit. Damals hatte ich eine recht große Nase und das ist ihr damals beim Abtasten aufgefallen, aber mittlerweile hat sich das verwachsen.
„Wir sind gerade nicht im Augenblick oder?“ Diese Frage stellte sie immer, wenn wir über die Zukunft oder die Vergangenheit redeten. „Das sind wir selten“, fiel mir nur als Antwort ein. „Weißt du noch als wir als Kinder immer im Sommer mit dem Auto zum Campen gefahren sind? Du hast mir immer genau beschrieben wie alles aussieht.“ Ich verstand nicht worauf sie hinaus wollte. „Wenn wir über dieses Thema jetzt reden, sind wir doch wieder in der Vergangenheit“, dachte ich, doch sie erzählte weiter: „Wir hatten „Ich sehe was, was du nicht siehst“ gespielt. Ich habe dir meine Welt beschrieben und du mir deine.“ Ich hatte als Kind nicht verstanden, dass sie einfach nichts sah und das Spiel half mir es wenigstens ein bisschen zu verstehen. „Ich fang an“, sagte Klara. „Also, ich sehe was, was du nicht siehst und das ist schwarz. Denn ich bin blind.“ Sie lachte. Ihr Humor war unübertrefflich. „Nein Spaß, ich weiß, dass wir auf einer Bank sitzen und neben uns, links und rechts noch andere Bänke stehen. Du sitzt neben mir in einer Jeansjacke und bestimmt hast du die weißen Nikes an, die du immer an hast. Sonst höre ich noch das Wasser vor uns und manchmal Schiffe, die darauf fahren und ich rieche, dass hier Bäume stehen.“ Ich hatte ihr diesen Ort schon tausendmal beschrieben und wollte es nicht nochmal tun, aber sie bestand darauf. „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist Licht. Alles vor uns ist dunkel bis auf ein paar Lichter im Hafen. Schiffe fahren manchmal über das Wasser, die Kräne in der Ferne haben helles Flutlicht. Aber hier oben kann ich kaum meine eigene Hand sehen, so dunkel ist es. Mir geht es fast wie dir. Nur, dass ich dich sehe und das ist schön.“
Wir schwiegen etwas und haben diesen Moment auf uns wirken lassen. Es war eigentlich ein Postkarten-Moment, aber hätte ich ein Foto gemacht, hätte ich ihn damit gleichzeitig zerstört. „Und was wird nun aus uns?“, fragte mich Klara. Ich hörte an ihrem Ton, dass sie die Frage ernsthaft beschäftigt. „Würde sie mich vermissen, wenn ich wegziehe? Sie hat doch bald ihren neuen Freund. Oder ist sie etwa in mich-“, ich wollte mich diesen Gedankenspielen nicht hingeben, sondern an diesem Abend einen Schlussstrich ziehen. „Wir bleiben Freunde, so wie immer“, sagte ich nüchtern. Nach ein paar Sekunden rückte sie näher an mich ran und flüsterte mir ins Ohr: „Und was ist, wenn ich Sex möchte?“ Ich wurde wieder wütend auf sie. Sie dachte nur an sich. Ich fragte mich aber auch, ob ich überhaupt wütend auf sie sein durfte, schließlich ist sie blind. Darf man auf Leute mit einer Behinderung wütend sein? Andererseits wollen sie doch wie normale Menschen behandelt werden. Meine Gedanken wurden unterbrochen, weil sie ihre Hand in meinem Schritt parkte.
Dann fingen die Automatismen an. Wir küssten uns, sie machte wie immer auffällig viel mit ihren Händen, um so viel wie möglich zu fühlen, sagte sie immer. Wir zogen die Hosen etwas runter und sie setzte sich auf mich. Da waren sie wieder, die Schmerzen. Ich fragte mich wie sie es schaffte immer überall rasiert zu sein. Machte sie es alleine oder half ihr ihre Mutter dabei? Ich war erstaunt wie die Gedanken manchmal abdriften konnten. Dann dachte ich an alles, was war. Jede Erinnerung, die ich mit ihr erlebt hatte und mir fiel auf, dass es das Beste war, Abstand von ihr zu nehmen, denn auch wenn ich Sex hatte mit der Besten Aussicht in ganz Hamburg, mit einem schönen Mädchen, das gar nicht wusste wie schön sie war, war ich trotzdem alles andere als glücklich.
20°C in der Nacht waren das Beste am Sommer. Ich stand am Bahnsteig und nahm meine Maske ab. Es waren eh keine Leute da, die ich hätte anstecken können. Eine Frau saß 20 Meter entfernt auf einer Bank und ein Obdachloser kam gerade die Treppe hoch, die genau am anderen Ende des Bahnsteigs war. Ich schaute auf die Uhr. 22:22 Uhr. War das ein Zeichen?
Ich ging nervös auf und ab. „Ich muss heute einen Schlussstrich ziehen“, dachte ich und versuchte mich durch Einatmen der frischen Luft zu beruhigen, sie war nicht mehr so schwül wie am Tag, aber es funktionierte nicht. Ich musste eine rauchen. Ich weiß nicht wie oft ich mit meinen 24 Jahren schon versuchte aufzuhören. Ich zündete mir eine an und meine Atmung wurde automatisch langsamer. Ich schloß die Augen, atmete tief ein und aus und zählte bis 13. Das machte ich schon seit ich denken konnte, weil ich schon immer schnell nervös und wütend wurde. Als ich bei 7 war, hörte ich wie ein Mann sagte: „Ey, Maske auf, man.“ Es war der Penner, doch ich zählte weiter. Bei Sekunde 11 stand er dann vor mir. Er hatte den Weg tatsächlich geschafft, bevor ich bei 13 angekommen war. Ich öffnete die Augen und da stand er taumelnd vor mir und erzählte mir mit starkem Mundgeruch, was ich für ein rücksichtsloser Arsch sei. Dass er selbst auch keine Maske trug, fiel ihm nicht auf.
Er roch nach Wichse und Erbrochenem. Ich musterte seine gelben, kaputten Zähne und seine Haare waren das Ekeligste, was ich je gesehen hatte. Nach ein paar Sekunden schlug ich ihm dann mit meiner Faust in die Magengrube und er sackte zusammen. „Geh mir nicht auf die Eier, du Schwanz“, sagte ich zu ihm. Ich war wieder auf 180 und wusste nicht wohin mit meiner Energie.
Die Bahn kam endlich und ich setzte die Maske auf. Der Penner schaffte es auch noch gerade so in die Bahn, jedoch fiel er mehr hinein, als dass er hineintrat. Ein strenger Blick von mir reichte, damit er sich ans andere Ende des Wagons setzte. „Jetzt 10 Minuten abschalten“, dachte ich. Nur leider regte es mich auf, dass ich das vorbeiziehende Hamburg nicht genießen konnte, weil sich, durch das Licht im Wagon, alles in der Scheibe spiegelte und ich mich nur selbst sah.
Ich hörte nochmal die letzte Sprachnachricht von ihr an. „Hey, es ist heute so viel Scheiße passiert. Ich brauch dich. Treffen wie immer?“ Wie immer, sie meldete sich und ich sprang, wie es ihr gefiel.
Ich kannte Klara schon seit 16 Jahren. Wir wohnten im gleichen Mehrfamilienhaus bis mein Vater starb und meine Mam und ich umzogen. Klara wohnte mittlerweile auch nicht mehr da. Ich fand sie schon immer hübsch, aber statt einem Paar wurden wir beste Freunde. Ihr gutes Aussehen hatten natürlich auch andere bemerkt, weshalb sie auch seit Jahren nie lange single war. Manchmal wünschte ich mir, dass wir nicht so gut befreundet wären. Dadurch, dass ich fast alles von ihr wusste, wurde sie immer attraktiver. Ich dachte, ich hätte Glück gehabt als wir im ersten Lockdown angefangen hatten miteinander zu schlafen, obwohl sie vergeben war. Sie hatte ihren Freund in der Zeit nicht gesehen, weil er beruflich mit vielen Leuten zu tun hatte und sie sich auf gar keinen Fall infizieren wollte. Ich hatte aber kein schlechtes Gewissen ihrem Freund gegenüber. Ich wusste, dass er Klara auch schon öfters betrogen hatte. Ich hatte es ihr auch gesagt, aber sie sagte, sie glaubt es erst, wenn sie es mit ihren eigenen Augen sieht. Ich konnte sie da nicht verstehen.
Für mich war das damals einfach Sex mit einer Person, die ich lieb hatte und nicht liebte. Da gab es einen klaren Unterschied. Doch wie das mit Gefühlen eben so ist, verändern sie sich gerne mal.
An einem Abend, wir waren bei ihr, ging es ihr nicht gut. Sie hatte starke Bauchschmerzen und sie lag in ihrem kleinen 90cm Bett in meinem Arm und ich streichelte ihr, weil es bei mir immer half, mit kreisender Bewegung den Bauch bis sie dann schließlich pupste. Ich stoppte das Streicheln und hielt kurz inne. Ich wusste nicht, ob ich mich verhört hatte oder nicht. Ich beugte mich über sie, um ihr Gesicht zu sehen, aber es war ihr wohl so unangenehm, dass sie so tat als ob sie schläft. In diesem Moment hatte ich mich in sie verliebt.
Diese neuen Gefühle hatten es nicht einfacher gemacht, im Gegenteil, alles wurde schwerer. Immer wenn wir Sex hatten, tat es weh, Natürlich hatte ich es auch irgendwie genoßen, aber es tat weh, weil ich wusste, dass sie mich nie so lieben würde, wie ich sie liebte.
Nach den Lockerungen hatten wir trotzdem noch hin und wieder etwas miteinander, obwohl sie ihren Freund wieder gesehen hatte, aber sie hatten oft Streit, weil er einfach ein Arsch war.
Altona. Ich musste aussteigen und ging noch durch einen kleinen Park zu unserem Treffpunkt. Der Altonaer Balkon, eine Aussichtsplattform mit einem schönen Blick auf den Hafen. Hier trafen wir uns immer. Die mittlere Bank, die vierte von links, das war unsere. Es kam mir so vor, als ob die Bänke zu Corona-Zeiten aufgestellt wurden, weil sie in perfekt gesetzten Sicherheitsabstand nebeneinander standen. Sie waren da aber natürlich schon seit Jahren. Klara war noch nicht da. Sie kam immer zu spät. Ich setzte mich auf die Bank und schaute auf den Hafen und die Elbe. Wie sich die Lichter im Wasser spiegelten und es an manchen Stellen einfach schwarz und dunkel war, lies mich kurz alles vergessen. Wenn da nicht alle paar Minuten ein Schiff lang fahren würde, hätte ich gedacht, ich schau auf eine Straße und nicht auf Wasser.
Ich war aufgeregt und wippte mit meinem rechten Bein. Ich fragte mich, was heute noch passieren würde. „Beschwert sie sich nur über ihren Freund, möchte sie Sex?“ Wir hatten uns etwa drei Wochen nicht mehr gesehen. Sie sagte immer zu mir, wenn wir uns verabschieden, ich soll mir ihre letzten Worte merken, falls sie mal auf die Gleise stürzt oder so. Ich antwortete meistens nicht darauf, sondern dachte mir, dass das dann die letzten Worte von ihr wären. Warum werden letzten Worten immer so eine hohe Bedeutung zu gesprochen? Die letzten Worte von meinem Vater weiß ich auch nicht mehr. Ich war ein Kind. Das Einzige, was ich noch weiß, ist, dass wir nicht mehr jeden Tag ins Krankenhaus gegangen sind und in eine neue Wohnung gezogen sind. Ich finde Erinnerungen bedeutsamer als die letzten Worte, auch wenn sie leider nach einiger Zeit verblassen, gibt es immer wieder Momente, in denen ich an meinen Vater denke, wie z.B. wenn ich mir die Schuhe zubinde. Wir hatten es so lange zusammen geübt. Ich werde das für immer mit ihm verbinden.
Ich hörte Schritte hinter mir. Aufgrund der Dunkelheit sah ich nur Umrisse. Schlank, nicht so groß, lange Haare. Klara wohnte nur zwei Minuten vom Treffpunkt entfernt, weshalb sie Connor, ihren Hund auch so gut wie nie mitnahm. Stattdessen tastete sie sich mit ihrem Blindenstock den Weg. Sie berührte immer jede Bank einmal, um sie zu zählen. „Die vierte wie immer“, sagte sie zu mir. „Es ist die Bank mit dem besten Ausblick.“ „Du Egoist“, sie lachte dabei. Klara tastete die Bank ab und saß sich neben mich. „Du hast geraucht. Das hab ich schon vor meiner Haustür gerochen.“ Ich sagte ihr, dass niemand so gut riechen könne und sie erwiderte, dadurch, dass sie blind sei, eine viel bessere Nase zu haben als ich. Ich mochte ihren Humor. Aber plötzlich wurde sie ernst und sagte, dass Drake, ihr Freund, mit ihr Schluss gemacht hatte. Er heißt so wie der Rapper Drake, aber benannt ist er nach Drake aus der Serie „Drake & Josh“, weil er die gleiche Frisur wie er hatte, eigentlich heißt er Derik. Sie war traurig, sie waren ja auch fast zwei Jahre zusammen und sie hat ihn wirklich geliebt, obwohl sie wusste, dass er sie schon mehrmals betrogen hatte. Sie fing an zu weinen. „Komisch“, dachte ich, „da haben ihre Augen doch eine Funktion.“ Ich nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Sie erzählte mir, dass er ihr heute alles gebeichtet hatte und nur darüber traurig war, dass er sie so lange und so oft angelogen hatten und nicht weil es auseinanderging. Darüber hatte ich mich gefreut. Dann fuhr sie weiter fort: „Ich bin eigentlich auch schon länger in jemand anderen verliebt, aber ich weiß nicht, ob ich ihm das sagen soll.“ Darüber hatte ich mich nicht gefreut.
Ich hatte nie verstanden, wie sie entschied, wen sie attraktiv findet. Sie hatte natürlich auch schon mal mein Gesicht abgetastet, aber wenn man noch nie ein Gesicht gesehen hat, ergibt sich doch im Kopf kein Bild davon. Entschied sie es dann anhand der Stimme, am Charakter oder wie derjenige sie behandelt? Ich wollte sie das fragen, aber es war der falsche Augenblick dafür.
Sie putzte sich die Nase und ihre Tränen trockneten langsam. Ich wusste nicht was ich darauf antworten sollte und fing an irgendwas zu brabbeln von wegen, du wirst es dann spüren, wenn der richtige Zeitpunkt dafür kommt, obwohl ich innerlich traurig war. „Wie fand sie nur immer neue Typen?“, fragte ich mich. Als mir zu dem Thema nichts mehr einfiel, waren wir beide still und ich schaute wieder auf die Elbe und merkte, als ein Schiff vorbeifuhr und ich durch dessen Licht die Wellen sah, die das Schiff machte, dass ich wieder dachte vor mir sei eine Straße und kein Wasser.
Ich machte ein Foto von Klara. Das machte ich oft, sie merkte es ja nicht. Wenn ich mir das Bild dann später irgendwann anschaute, wusste ich immer genau was das für ein Augenblick war. Was ich dachte, was sie mir sagte. Es war einfach eine Sammlung von schönen Momenten. So ähnlich wie eine Postkarte von einem besonderen Moment.
Klara fragte mich, ob bei mir alles okay sei, ich sei so ruhig. Ich sagte ihr, dass ich nach Kiel zum Studieren ziehen werde. Sie fragte, ob da denn überhaupt genug Platz für meine große Nase sei. Den Witz brachte sie schon seit unserer Kindheit. Damals hatte ich eine recht große Nase und das ist ihr damals beim Abtasten aufgefallen, aber mittlerweile hat sich das verwachsen.
„Wir sind gerade nicht im Augenblick oder?“ Diese Frage stellte sie immer, wenn wir über die Zukunft oder die Vergangenheit redeten. „Das sind wir selten“, fiel mir nur als Antwort ein. „Weißt du noch als wir als Kinder immer im Sommer mit dem Auto zum Campen gefahren sind? Du hast mir immer genau beschrieben wie alles aussieht.“ Ich verstand nicht worauf sie hinaus wollte. „Wenn wir über dieses Thema jetzt reden, sind wir doch wieder in der Vergangenheit“, dachte ich, doch sie erzählte weiter: „Wir hatten „Ich sehe was, was du nicht siehst“ gespielt. Ich habe dir meine Welt beschrieben und du mir deine.“ Ich hatte als Kind nicht verstanden, dass sie einfach nichts sah und das Spiel half mir es wenigstens ein bisschen zu verstehen. „Ich fang an“, sagte Klara. „Also, ich sehe was, was du nicht siehst und das ist schwarz. Denn ich bin blind.“ Sie lachte. Ihr Humor war unübertrefflich. „Nein Spaß, ich weiß, dass wir auf einer Bank sitzen und neben uns, links und rechts noch andere Bänke stehen. Du sitzt neben mir in einer Jeansjacke und bestimmt hast du die weißen Nikes an, die du immer an hast. Sonst höre ich noch das Wasser vor uns und manchmal Schiffe, die darauf fahren und ich rieche, dass hier Bäume stehen.“ Ich hatte ihr diesen Ort schon tausendmal beschrieben und wollte es nicht nochmal tun, aber sie bestand darauf. „Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist Licht. Alles vor uns ist dunkel bis auf ein paar Lichter im Hafen. Schiffe fahren manchmal über das Wasser, die Kräne in der Ferne haben helles Flutlicht. Aber hier oben kann ich kaum meine eigene Hand sehen, so dunkel ist es. Mir geht es fast wie dir. Nur, dass ich dich sehe und das ist schön.“
Wir schwiegen etwas und haben diesen Moment auf uns wirken lassen. Es war eigentlich ein Postkarten-Moment, aber hätte ich ein Foto gemacht, hätte ich ihn damit gleichzeitig zerstört. „Und was wird nun aus uns?“, fragte mich Klara. Ich hörte an ihrem Ton, dass sie die Frage ernsthaft beschäftigt. „Würde sie mich vermissen, wenn ich wegziehe? Sie hat doch bald ihren neuen Freund. Oder ist sie etwa in mich-“, ich wollte mich diesen Gedankenspielen nicht hingeben, sondern an diesem Abend einen Schlussstrich ziehen. „Wir bleiben Freunde, so wie immer“, sagte ich nüchtern. Nach ein paar Sekunden rückte sie näher an mich ran und flüsterte mir ins Ohr: „Und was ist, wenn ich Sex möchte?“ Ich wurde wieder wütend auf sie. Sie dachte nur an sich. Ich fragte mich aber auch, ob ich überhaupt wütend auf sie sein durfte, schließlich ist sie blind. Darf man auf Leute mit einer Behinderung wütend sein? Andererseits wollen sie doch wie normale Menschen behandelt werden. Meine Gedanken wurden unterbrochen, weil sie ihre Hand in meinem Schritt parkte.
Dann fingen die Automatismen an. Wir küssten uns, sie machte wie immer auffällig viel mit ihren Händen, um so viel wie möglich zu fühlen, sagte sie immer. Wir zogen die Hosen etwas runter und sie setzte sich auf mich. Da waren sie wieder, die Schmerzen. Ich fragte mich wie sie es schaffte immer überall rasiert zu sein. Machte sie es alleine oder half ihr ihre Mutter dabei? Ich war erstaunt wie die Gedanken manchmal abdriften konnten. Dann dachte ich an alles, was war. Jede Erinnerung, die ich mit ihr erlebt hatte und mir fiel auf, dass es das Beste war, Abstand von ihr zu nehmen, denn auch wenn ich Sex hatte mit der Besten Aussicht in ganz Hamburg, mit einem schönen Mädchen, das gar nicht wusste wie schön sie war, war ich trotzdem alles andere als glücklich.
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